Late Afternoon ermöglicht dem Zuschauer, die Realität aus beiden dieser Perspektiven wahrzunehmen und fordert damit zum einen zur Empathie und zum Verständnis für die an Demenz Erkrankten auf, weist zum anderen auf die Möglichkeiten eines angemessenen Verhaltens der Pflegepersonen hin. Denn Reglementierungen oder gar aggressives Verhalten ihnen gegenüber ist fehl am Platz:
Alle Versuche, den Kranken aus seiner Welt in unsere Realität zu überführen, sei es mit Hilfe des Realitäts-Orientierungs-Trainings oder logischer Erklärungen, führen zu einer Verunsicherung des Betroffenen und zu aggressiven Reaktionen. Viel sinnvoller ist eine Begleitung des Demenzkranken auf den Wegen seiner Vorstellungen. Häufig gelingt es dabei wichtige Informationen über seine Wünsche, Ängste und Vorlieben zu gewinnen. Die Kranken fühlen sich verstanden, aufgewertet und geborgen. Sie leben dann weitgehend unauffällig und trotz der Schwere der Beeinträchtigung oft sehr glücklich.[1]
Deshalb spielt die Biografiearbeit[2] und Erinnerungspflege[3] eine besondere Rolle in der Betreuung dementer Menschen. Demenzkranke werden dabei nicht defizitär wahrgenommen („Die können nicht mehr…“), sondern in ihren Fähigkeiten gestärkt, Erinnerung als Möglichkeit zur Identitätsarbeit im Alter zu begreifen. In der Biografiearbeit wird gerade jener „Koffer voller Erinnerungen“ ausgepackt, den Emily symbolisch in der zweiten Erinnerungsszene als schwere Last mit sich trägt:
Der im Tee
versinkende Keks, die Bücher auf dem Tisch, das Album mit den Familienfotos wecken
Erinnerungen und stellen Zusammenhänge her zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Der glitzernde Stein, der schwere Koffer (voller Erinnerungen), die Namen im
Sand: In der Biografiearbeit mit an Demenz Erkrankten werden Zusammenhänge
rekonstruiert, verschüttete und offene Erinnerungen wie Puzzlesteine neu
zusammengebracht oder als Memory neu- und wiederentdeckt. Damit wird
ansatzweise Selbstreflektion ermöglicht – und dies vielleicht jeden Tag neu und
vielleicht auch anders. Eine Erinnerungen anregende Umgebung mit vertrauten
Einrichtungsgegenständen, wiederkehrenden Ritualen und festen Zeiten ermöglicht
und unterstützt solche Erinnerungsarbeit.
Das Verhalten von Kate in Late Afternoon ist diesbezüglich beispielhaft:
Sie ermöglicht mit der Tea-Time am späten Nachmittag feste Zeiten, die
vermutlich zum Tagesablauf ihrer Mutter gehörten ebenso wie der zum Tee gereichte
Keks; sie gibt anregende Impulse mit den ausgelegten Büchern und Fotoalben und
erzeugt solche in sich ruhende Ankerpunkte, die Sicherheit vermitteln und –
gewollt oder ungewollt – Flashbacks in die Vergangenheit ermöglichen. Auf der
anderen Seite beraubt sie mit dem Verpacken der Einrichtungsgegenstände Emily
der vertrauter Umgebung und gibt Anlass zu der Vermutung, dass dies vielleicht
der letzte späte Nachmittag sein wird, den Emily in der vertrauten Umgebung
ihrer Wohnung verbringt, bevor sie ihren Lebensweg in einem Pflegeheim
verbringen wird oder von ihrer Tochter Kate in ihr eigenes Zuhause mitgenommen
wird. Insofern trägt der Filmtitel Late afternoon symbolische Züge und
werfen für die Zuschauer Fragen auf: Werden sich jene Rituale am Nachmittag
noch viele Male wiederholen oder gehen sie in eine Abenddämmerung über, in der
das Meer (der Zeit) auch die letzten Spuren der Namen und selbst den Stock, mit
denen sie geschrieben wurden, weggespült hat.
[1] https://www.deutsche-alzheimer.de/unser-service/archiv-alzheimer-info/verstaendigung-mit-demenzkranken.html
[2] Einführend: https://www.diakonieneuendettelsau.de/magazin/magazin-senioren/biografiearbeit-unterstuetzt-menschen-mit-demenz/; Biografiearbeit als Methode in Pflegeberufen und Pädagogik: http://methodenpool.uni-koeln.de/download/biografiearbeit.pdf;
[3] https://www.demenz-support.de/Repository/dessorientiert%201_16.pdf